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Wahrheit und Martyrium. Ein Bestiarium.

Thomas Ballhausen, Lars Tillmanns © 2000 - 2001

"Yesterday the living mourned the dead, Today the dead mourn the livings"
In den hier versammelten Zeichnungen findet sich eine klar ablesbare Verschärfung gegenüber früheren Übermalungen, Verschärfung und Eskalation sind auch als Fixpunkte des umgesetzten ästhetischen Programmes auszumachen. Die vorgelegten Umarbeitungen und Übermalungen erzeugen auch eine Demaskierung der herrschenden Apparate und ihrer ausführenden Elemente: eine Anklage über das Aufzeigen einer jetzt gültigen Wahrheit. Aber auch die Wahrheit ist vom Prozeß der Wandlung und Veränderung nicht ausgeklammert; andere Dinge vielleicht, doch gewiß nicht die Wahrheit.
Wahrheit aus einem religiös motiviertem Mysterium herausgelöst, muß zwangsläufig in ein Martyrium übergehen. Das hier präsentierte Martyrium ist hier aber nicht genau definiert; es ist auch nicht definierbar. Die Frage, wer das Opfer sei, bleibt offen. Und ist damit der Moment der Auseinandersetzung mit dem Bestiarium nicht nur ein punktueller Eingriff, eine Übermalung oder ein starker Strich; ein Verweis auf das Martyrium, das jedem eigen ist. Blut, Schweiß, Tusche - bereits getrocknet, aber immer noch greifbar, obwohl die Werkzeuge nicht mehr zu sehen sind. Was gemacht wurde, eröffnet sich dem geneigten Betrachter nach und nach, wer Hr. Pinter ist, muß sich jeglicher Antwort entziehen.
Mit der demaskierenden Bewegung erweist sich die Collage auch als politisches Programm, ein kreativer Ausdruck der von Kristeva beschworenen Mächte des Grauens: ein Verlust des Vertrauens in allumfassende Systeme. Eben in jene Systeme, die Basiselemente und Regulative eben jenes europäischen, christlich motivierten Weltbild des Mittelalters waren, die hier nun eine Folie für eine Weiterarbeit bieten. Pinters Vorgehensweise ist partiell auch als Décollage zu erkennen, ein Einreißen aufgebauter Ordnungen, aber nur mitnichten ein primitiver Zerstörungsprozeß: vielmehr ein dekonstruktivistisches Sperren gegen eine letztgültige Interpretation, gegen eine mittelalterliche Hermeneutik und Wahrheitsfindung. Die Assemblage schimmert als weitere kunsthistorische Folie durch die neu entstandenen Werke: wir finden hier aber keine beliebige Ansammlung vor, sondern ein bewußtes Vereinen von Schockierendem und Schockiertem. Dies macht es oft nötig, über die ursprünglichen Ränder hinauszuzeichnen; aber auch jenseits der vorgegebenen Begrenzungen stößt der Künstler, und mit ihm die dargestellten Figuren, auf neue unüberwindliche Enden. Der neu angeeignete - der erzeichnete - Raum reicht nicht mehr aus.
Das dionysisches Element des Schöpfungsprozesses, das den Betrachter in den Strudel des Wandels und der Brüche miteinbezieht, erzeugt eine Faszination, der man sich nicht entziehen kann. Unterstützt wird dieser Effekt noch von der Wahl der technische Hilfsmittel und Aspekte: die künstlerische Vorgehensweise spiegelt sich in den vorgeführten Instrumentarien des Schreckens. In den Gegenüberstellungen, am augenfälligsten ist die Dichotomie Heiliges - Profanes, ergeben sich Vermischungen; aber nicht wo es möglich scheint, sondern nur dort, wo es auch angebracht ist.
Die bereits erwähnte, nur vordergründig negative, Destruktivität, entpuppt sich als wertschöpfende Täuschung. Dahinter läßt sich eine tiefgehende Beschäftigung mit den einzelnen Bildern ausmachen, große Emotionen, die der Künstler in seine Werke hineingelegt hat: wo die Linien besonders dick sind, wird uns die Anklage verstärkt und erneut ins Bewußtsein gerufen. Blendende Schönheit wird heruntergerissen , Masken und falsches Fleisch abgeschält: durch diesen oft auch schmerzvollen und ekelhaften Prozeß wird die Wahrheit zutage gefördert, in aller Häßlichkeit und Härte anschaulich dargestellt, sie wird praktisch hervorgestrichen. Diese Betonung verlangt in einer wortlosen Bildwelt wie dieser nach groben und gewaltvollen Gesten, nach Andeutungen und dem Aufwerfen der Frage, was denn nun wirklich bedrohlich sei.
Diese Bedrohung geht hier oft von den Extremitäten, die stark vergrößert dargestellt werden, aus, die eine zusätzliche Vermengung - um nicht von einer Vereinigung zu sprechen - erzeugen: Sexualität und Drohgebärde, die oft auch von den erst durch den Künstler eingebrachten Figuren ausgehen. Sie entziehen sich einer eindeutigen geschlechtlichen Zuschreibung. Der erster Blick läßt uns - mehr oder minder - freundlichen Täuschungen erliegen, die auch auf unseren Konventionen des Sehens beruhen. Der blinde Fleck des Betrachters entsteht auch aus einer Gewohnheit heraus, eine alltägliche Betrachtungsweise zu konstruieren, die sich hier als dysfunktional erweist.
Diese Bedrohungen werden praktisch bis ins Unerträgliche gesteigert; aber immer dann, wenn das Original in seiner Intensität nicht mehr zu verstärken war, wenn ein weiterer Eingriff nur eine Abschwächung hervorgebracht hätte. Für Pinter hat die Übermalung erst dann ihr endgültiges Ziel erreicht, wenn sie ihren schlimmstmöglichen Ausdruck gewonnen hat.
Doch das entmenschlichte Monster liegt im Auge des Betrachters; die Grenzen sind fließend, und wir bewegen uns in einem ständigen Strom des Wechsels und der Unbestimmtheit. Die Frage nach dem Selbstbild in einer sich entfremdenden Natur läßt uns zurückzucken, aber auch aufmerksam werden. Wie sehr man selbst schon ein Monster geworden ist, oder schon immer war, man zweifelt. Ein berechtigter Zweifel, denn durch unser eingebunden sein in den Prozeß der Folter, der Einrichtung, des Zurechtrückens, ist das rauschhafte Martyrium des Künstlers auch zur Frage nach der Zumutbarkeit an den Betrachter geworden. Mit dem Einschreiben - oder besser: Einzeichnen - des Betrachters in das hier graphisch neu ausformulierte Bestiarium wird schlagartig klar, was in all den Wunden, Öffnungen, dort wo das Fleisch auseinander klafft, sichtbar wird: Teile unseres eigenen, geschundenen Selbst.